Menschen in der Weißen Stadt

Ein Stadtviertel wird nicht nur durch die geografischen und ökonomischen Faktoren, sondern auch durch die Vorstellung bestimmt, die seine Bewohner:innen und die der anderen Viertel davon haben.
Nach Paul-Henry Chombart de Lauwe: Paris und das Pariser Stadtgebiet.

Als Künstler interessieren wir uns mit dem Projekt »Menschen in der Weißen Stadt« für das Netzwerk des Zusammenlebens. Wir visualisieren geografische, architektonische und virtuelle Alltagssituationen als filmische und fotografische Einzelporträts von Bewohner:innen eines Viertels und fügen sie zu einer Collage sich wechselseitig durchdringender Sphären.

Dafür begleiten wir die Menschen innerhalb eines definierten Gebiets in ihrem Alltag. Jedes Porträt wird eine Montage aus Interviews, Stadterkundungen, Filmmaterialien aus familiären Besitzständen, Fotografien und historischem Filmmaterial der Stadtgeschichte. Für die Vorführung planen wir zunächst eine interaktive Präsentation sowie eine Reihe aus Kurzfilmen.

Als Viertel haben wir exemplarisch die Weiße Stadt gewählt, eine Großsiedlung mit offener Binnenstruktur und eine der sechs Siedlungen der Berliner Moderne. Hier kreuzen sich die zeitgenössischen Lebensumstände mit den mittlerweile historisch zum Weltkulturerbe veredelten Idealen der Moderne.

In Folge des Wohnungsmangels erbaut zwischen 1928–1931 und entworfen als Einheit von Baukultur mit Kunst und Design stand die Siedlung für die Hoffnung auf eine bessere Zukunft mit Demokratie, sozialer Teilhabe, Emanzipation und Partizipation.

Alltagspraktisch bot die Siedlung helle Wohnungen mit Fernheizung aus einem eigenen Heizkraftwerk, Bäder mit fließend Wasser, ein zentrales Waschhaus, Geschäfte und eine Apotheke. Sämtliche Fassaden durchgehend in Weiß gehalten ist jedes Gebäude durch farbige Akzentuierung der Regenrohre, Dachüberstände, Türen und Fensterrahmen charakterisieret. Die weitläufigen Grünanlagen dienten der Erholung und zur eigenen Versorgung.

In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg alterte die ursprüngliche Bewohnerschaft, während der Zuzug weitgehend ausblieb; noch Anfang des 21. Jahrhunderts standen zahlreiche Wohnungen leer. Nicht zuletzt in Folge der innerstädtischen Verteuerungen der Mietpreise ist heute nahezu jede der 1268 historischen und vergleichsweise günstigen Wohnungen bewohnt. Die Anlage gehört mittlerweile der Aktiengesellschaft Deutsche Wohnen, wurde 2008 in das UNESCO-Weltkulturerbe aufgenommen und entsprechend umfassend renoviert.

Rund 77 Prozent der 83,1 Millionen Einwohner:innen Deutschlands leben in dicht und mittelstark besiedelten Gebieten, knapp die Hälfte zur Miete. Wohnungen werden in den großen Städten zunehmend zu Spekulationsobjekten und Investitionsanlagen auch internationaler Konzerne, mit erheblichen Folgen für den Wohnungsmarkt, die innerstädtische Mobilität und die Infrastruktur.

Unser Projekt soll als künstlerische Arbeit auch einen Eindruck davon vermitteln, welchen Anteil jeder einzelne Mensch auf das komplexe Gefüge unseres Miteinanders hat. Diese Porträts stehen im Mittelpunkt der Arbeit. Wir werden unterschiedlichste Personen bitten, sie in ihrem Alltag eine Weile zu begleiten.

Das Ergebnis werden unsere Film- und Fotoaufnahmen sein, die subjektiv und assoziativ Alltagseindrücke der Umgebungen, der Bewegungen und der Begegnungen visualisieren, erweitert durch Aufnahmen, die von den Porträtierten mit dem Smartphone selbstgemacht werden, falls dies ihnen möglich ist. Ergänzen möchten wir mit Erinnerungsfotografien und Filmaufnahmen aus dem Fundus der Porträtierten.

Thomas Mank, Medienkünstler
Stefan Freund, Fotograf