Wir schaffen das Gesamtkunstwerk. Die Zusammenarbeit von Architektur und Plastik und Malerei (gemeinsam) mit Industrie und Technik, Leben. Darum geben wir den Individualismus auf.
Werner Graeff, aus: Für das Neue”, in „De Stijl“ (Leiden), Jg. V, Nr. 5, 1922.
Diese klare künstlerische Haltung und ihre Übertragung auf die unterschiedlichsten Kunst- und Lebensbereiche ist die eigentliche Stärke des jungen Künstlers Werner Graeff. Er beginnt sein Arbeiten in einer Zeit des Umbruchs, des Suchens, leidenschaftlicher, fruchtbarer Diskussionen mit nichts geringerem zum Ziel als der kulturellen und sozialen Erneuerung der Gesellschaft.
Der junge Werner Graeff hatte sich bereits während der Schulzeit für eine künstlerische Laufbahn, aber nach praktischen Erfahrungen mit dem Werksalltag praktizierender Künstler gegen eine konventionelle akademische Ausbildung entschieden: Ich machte mich auf die Suche nach „Meistern“, von denen etwas zu lernen war. Die fand er im neugegründeten Bauhaus in Weimar. Er bewarb sich mit einer Auswahl von Holzschnitten und Skulpturen und wurde 1921 im Alter von 20 Jahren aufgenommen.
Drei Jahre nach Ende des 1. Weltkrieges mussten auch Kunststudenten im inflationsgeschwächten Nachkriegsdeutschland hungern, das noch unbekannte Bauhaus war beinahe mittellos. Eine gleichaltrige Kommilitonin Werner Graeffs, Erna Niemeyer, die später unter dem Namen Ré Soupault berühmt werden sollte, erinnerte sich 74 Jahre später im Gespräch mit dem Autor: „Schüchtern trat ich ein und wurde gleich von einem großen jungen Mann angesprochen: Na, Mädchen, neu hier? Haste Hunger? Ich hatte und bekam gebratene Kartoffelschalen mit Quark. Man hatte nichts und war dankbar für die kleinsten Reste. Auch an Unterkünften für die Studenten mangelte es, manchem blieb lediglich der Park zum Übernachten.“
Ein lebenslanger Kampf begann zunächst mit Essentiellem, essen, schlafen, arbeiten. Diese spartanische Lebensweise kam dem weltanschaulichen und pädagogischen Ideal Johannes Ittens durchaus entgegen. Itten, eine der bedeutenden Bauhausmeister, leitete den so genannten Vorkurs, den zu absolvieren jeder Anfängerin und jedem Anfänger Pflicht war. Ré Soupault: „Itten befreite uns von allen Vorurteilen. Das war, meinem Erachten nach, das Wesentliche seines Einflusses. Man fragt mich oft, was ich bei Itten gelernt habe; dann kann ich nur antworten: Keine Vorurteile zu haben. Und wenn ich sage, ich habe bei Itten Sehen gelernt ist das so zu verstehen, dass ich als ich selbst sehen lernte. Denn die Vorurteile in jener Zeit waren in den Kunstschulen so stark, dass man vorgeschrieben bekam, wie und was zu sehen sei. So wird’s gemacht und nicht anders! Man wurde festgenagelt auf bestimmte Routinen. Itten verlangte von uns, dass wir selber sehen.“
Ittens Unterricht unterschied sich radikal vom üblichen akademischen Alltag einer Kunstakademie. Die Stunde begann mit Atemübungen und körperlichen Lockerungsübungen. Oftmals wurde anschließend über Philosophie debattiert oder automatisch gemalt. Aber es gab auch eine starke Gegenfraktion, die sich später vor allem um den ungarischen Künstler Laszlo Moholy-Nagy sammelte, deren -ismus die Technik war. Der Kampf der Glaubensrichtungen wurde mit allen Mitteln geführt; während Johannes Itten und seine Anhänger ihre Ideologie – damals noch zusätzlich geprägt durch die persische Mazdasnan-Lehre – auch in Form kuttenartiger Kleidungsstücke demonstrierten, bevorzugten die „Technokraten“ die einfache schwarze Kleidung.
Frage: „Lernten Sie Werner Graeff im Vorkurs kennen?
Ré Soupault: „Ja. Graeff war eben auch dort. Er war immer sehr realistisch, und irgendwie auch genial. Von Ittens Methode hielt Graeff gar nichts. Im Gegenteil, das fand er völlig verstiegen und verrückt. Er hat die Tür zugeknallt und ist laut schimpfend gegangen. So haben viele über Itten gedacht, aber nicht ich, Werner gehörte eben zu denen, die dagegen waren.“
Zusätzlich zu den Bauhaus-Meistern zog diese neue Schule auch Künstler an, die sich für einige zeit dem Bauhaus anschlossen oder sich in Weimar aufhielten, wie beispielsweise Hans Richter, Vikking Eggeling und insbesondere der Maler und Kunsttheoretiker Theo van Doesburg, der zusammen mit Piet Mondrian und anderen Künstlern, Gestaltern und Architekten 1917 im niederländischen Leiden die De Stijl Gruppe und eine Zeitschrift gleichen Namens gegründet hatte. Die Vorstellungen der Gruppe standen unter dem Einfluss des Kubismus und der kunsttheoretischen Publikationen Wassily Kandinskys. Ihr Anliegen war es, sich vollständig von den Darstellungsgrundsätzen der traditionellen Kunst abzuwenden und eine neue, völlig abstrakte Formensprache zu erarbeiten, die auf der Variation von wenigen elementaren Prinzipien bildnerischer Gestaltung beruhte.
Theo van Doesburg hielt eigene Kurse ab und zog mit seinen radikaleren Gestaltungsauffassungen zahlreiche Studenten an, obgleich er nicht zum Lehrkörper des Bauhauses gehörte. Er wurde so zu einem Gegengewicht gegen die esoterischen Strömungen und gründete eine eigene Weimarer Dependance des De Stijl, der sich Werner Graeff nach einem Jahr Studium anschloss; man sagte ihm die härteste und zäheste Einstellung in der Gruppe nach (siehe: ). Klingt das alles so, als habe es am Bauhaus vor allem Streit gegeben? Das hieße, die Lage gründlich verkennen. Wir hatten Inflationszeit. Es war eine Zeit des Umbruchs, des Suchens, leidenschaftlicher, fruchtbarer Diskussionen. Hatte man an diesem oder jenem etwas auszusetzen (weil man sich alles noch besser, noch klarer, noch radikaler, noch fortschrittlicher wünschte) so hielten alle zusammen, sobald das Bauhaus von außen, von Reaktionären angegriffen wurde. Im ganzen war es eine herrliche, lebendige Gemeinschaft, der ich mich noch zugehörig fühlte, als ich längst nicht mehr am Bauhaus, sondern in Berlin in der Gruppe der Konstruktivisten tätig war.
Diese frühen Erfahrungen Werner Graeffs verbanden sich mit seiner außergewöhnlichen künstlerischen wie gleichermaßen praktisch-technischen Begabung und begründeten die Entwicklung seines Werkbegriffs ebenso wie die konsequente Lebensführung in Kunst und Gestaltung. Das oftmals gleichzeitige Arbeiten als Autor, Typograf, Karosseriedesigner, Filmemacher, Fotograf, schließlich Lehrer, Maler und Bildhauer, entsprang nicht nur den wirtschaftlich schwierigen Umständen, sondern entsprach seinem Selbstverständnis, durch das eigene Werk aktiv Anteil am gesellschaftlichen Leben zu nehmen.
Früh erkannte Graeff die Unvereinbarkeit seiner Vorstellungen mit dem aufkommenden Nationalsozialismus. Im plötzlichen Bruch mit einer verheißungsvollen Zukunft und künstlerischen Karriere flüchtete er 1934 unter Zurücklassung seiner frühen Arbeiten aus Deutschland.
Unter den Bedingungen des Exils und erst recht nach seiner Rückkehr setzte Graeff seine Arbeit fort und hat nach seinem plötzlichen Tod 1978 ein Werk hinterlassen, dessen intellektuell-kreative Kontinuität ebenso wie auch die Bruchstellen und Lücken für das Schicksal einer ganzen Generation stehen. In dem breit angelegten, dem klassischen Bild vom Künstler widersprechenden Sinne wird Graeffs eigentliches künstlerisches Werk sichtbar, in dessen konzeptionelle Kontinuität auch die Lücken und Verluste, die durch Flucht und Exil entstanden sind, gleichsam als Bestandteil der Werkskontinuität gelesen können.
In der Folge von Graeffs Gradlinigkeit der künstlerischen Grundhaltung, Kunst und tägliches Leben zur Einheit zu verschmelzen, aber vor allem auch durch den uneinholbaren Verlust an Kreativität durch das Exil verbleibt sein kunstgeschichtlicher Einfluss heute eher gering, mit Ausnahme im Bereich Film und Fotografie.
Werner Graeffs Beitrag zur Filmgeschichte besteht in jenen grafischen Entwürfen für zwei abstrakte Filme KOMPOSITION I/22 und KOMPOSITION II/22 aus dem Jahr 1921, die er selbst – noch ganz unter dem Einfluss der seinerzeit üblichen Begriffsanleihen bei der Musik – als „Partituren“ bezeichnete und in der Ausgabe XX von Hans Richters Zeitschrift für Gestaltung ‚G‘ veröffentlichte (zu deren Mitherausgeber er selbst 1923 avancieren sollte).
Durch die Vermittlung Theo van Doesburgs hatte Graeff Hans Richter und Vikking Eggeling kennen gelernt, die ihrerseits bereits seit einiger Zeit an den technischen und ästhetischen Möglichkeiten eines „Absoluten Films“ arbeiteten. Das seinerzeit vergleichsweise neue Medium Film war bereits Bestandteil einer interdisziplinär geführten Debatte über die Umsetzbarkeit einer „Absoluten Kunst“, wie sie von Wassily Kandinsky eingefordert worden war.
Graeffs Entwürfe von KOMPOSITION I/22 und KOMPOSITION II/22 waren ursprünglich nicht auf die filmische Umsetzung angelegt, zumal das notwendige Farbfilmverfahren, um KOMPOSITION I/22 zu realisieren, zu jener Zeit noch nicht existierte; vielmehr dokumentieren sie praktisch anschaulich die Anwendung der der Doesburg’schen „De Stijl“-Gestaltungsvorgaben auf das seinerzeit noch junge Medium Film.
Als Anfang der 60er Jahre das kunsthistorische Interesse am Konstruktivismus zunahm, bearbeitete und thematisierte Graeff einige seiner „De Stijl“ -Entwürfe erneut, so einige der erhaltenen um 1922 entstandenen Zeichnungen und vor allem auch die Filmpartituren, zunächst 1966 die schwarzweiße KOMPOSITION II/22, anhand derer er die seinerzeitigen Ideen zu Fragen von Symmetrien und Bewegungen noch einmal darstellte, wie sie sich dann auch infolge dieser Versicherung der Anfänge wieder in Graeffs freier Kunst wieder fand.
Erst 1976 übertrug Graeff die Partituren auf Super-8 und 16mm und veröffentlichte diese jeweils drei Minuten langen Filme zusammen mit einem Siebdruck der Partituren und einer Beschreibung als limitierte technisch realisiert, doch mit der Veröffentlichung der Entwürfe in verband ein Künstler der jungen Generation – Graeff war 21 Jahre alt – zum ersten Mal die aktuell diskutierten gesellschaftlich-ästhetischen Konzepte konkret mit den Möglichkeiten des Films.
„Wir wollen das Gesamtkunstwerk“ unterschrieb der 22jährige Werner Graeff begeistert die Veröffentlichung seiner Filmpartituren und verortete sich damit inmitten einer Diskussion, die nichts geringeres als die Abschaffung des bürgerlichen Kunstbegriffs forderte: Gegen den elitären Mythos von der Kunst als Produkt unbewusst wirksamer Prozesse individueller Schöpfung wurde die Idee einer gegenstandslosen Kunst als einer politisch real wirksamen Kraft gesetzt, d.h. aus der Synthese unterschiedlicher abstrakter Prinzipien sollte eine reale lesbare Formsprache entwickelt werden, die anwendbar sei auf alle Bereiche des Lebens. Ohne einen übergeordnet symbolischen oder irgendwie zeichenhaft lesbaren Inhalt zu vertreten thematisiert sie in der reinen Form sich selbst und damit zugleich die gegenständliche Welt. Diese „Absolute Kunst“, wie es Kandinsky 1911 formulierte, war als Weiterführung der gegenstandslosen Kunst hin zu einer inhaltslosen Gestaltung gedacht, und diese ‚reine Form‘ herzustellen war zu begreifen als Synthese von Inhalt und Gegenstand.
Die Gestaltungsmittel hierfür sollten nicht mehr nur plastischer dinglicher, sondern rhythmischer Natur sein und dienen nicht mehr nur der Beschreibung einer begrenzten Oberfläche, sondern gliedern einen Raum in eine zeitliche Abfolge…Ton, Geräusch, Lichtstrahl definierten ein zeitlich ablaufendes Ereignis, dessen Wesen bestimmbar sei durch Anfang, Ende und Intensität.
Der Künstler Hans Richter gehörte zu denjenigen, die sich bereits früh mit dem damals noch jungen Medium Film als einer möglichen Plattform für eine neue „Absolute“ Kunst beschäftigten. Auch die Ufa finanzierte damals derartige Filmexperimente in der Absicht, darüber neue Tricktechniken gewinnen zu können, um dem übermächtigen Einfluss der amerikanischen Produktionen eigene entgegensetzen zu können (Rudolf Kurtz, der ehemalige Leiter des Kulturfilmressors der Ufa und Förderer des Kunstprogramms schrieb über jenen „Absoluten Film“ ein Buch, das 1926 unter dem Titel Expressionismus und Film veröffentlicht wurde, und das erstmals einen Ein- und Überblick über die unterschiedlichen künstlerischen Tendenzen im deutschen Film gab).
In Zusammenarbeit mit Vikking Eggeling hatte Richter zunächst verschiedene technische Ansätze entwickelt, um graphische Entwürfe direkt per Einzelbildaufnahme auf Filmmaterial abzufotografiern. Als Vorlage dienten Bildfolgen, die nach dem Vorbild chniesischer Rollbilder gefertigt waren. Für die ersten Filmversuche entschieden sich Eggeling & Richter dazu, diese Rollbilder direkt auf das Filmmaterial zu übertragen, d.h. abfotografieren zu lassen. In einem Artikel in „De Stijl“ beschrieb Theo van Doesburg, der Eggeling und Richter Weihnachten 1920 in Klein-Kölzig besucht hatte, dass für diese ersten Versuche über 300 Einzelbilder angefertigt worden waren, was bei der damals üblichen Vorführgeschwindigkeit von 16 Bildern pro Sekunde für ca. 18 Sekunden Vorführung reichte. Immehrin beschloß Doesburg seinen Artikel über diesen Besuch mit dem positiven Fazit, dass es zwar noch nicht ganz zur Aufhebung der Form gekommen sei, aber das wird ihnen nicht schwerfallen. Anders Hans Richter; er erkannte, dass die Übertragung der Zeichnungen nicht nur die künstlerische Konzeption erforderte, sondern darüberhinaus eine tricktechnische Dramaturgie und entsprechende Präzision. Denn die Bewegungssimulation wurde erst durch die Abfolge sehr vieler einzelner Bilder hergestellt, deren einziger Unterschied zueinander in der gewünschten Metamorphose der Form bestehen durfte. Um also die gewünschte Wirkung auf der Leinwand zu entfalten, mußten die einzelnen Zeichnungen nur minimal voneinander abweichen, um so in der Abfolge einen Prozeß kontinuierlicher Metamorphosen der Formen zu simulieren. Als enorme Schwierigkeit erwies sich dabei insbesondere die starke Vergrößerung der Zeichnungen in der Projektion: Auch wenn die Zeichnungen exakt angefertigt zu sein schienen, wurden auf der Leinwand durch die starke Vergrößerung noch die kleinsten Fehler sichtbar.
So blieb für Eggeling und Richter das grundsätzliche Problem, dass die technische Natur des Films einen Vergleich der künstlerischen Ergebnisse mit ihren vorherigen Experimenten auf der Basis statischer Materialien nicht zuließ. Nach mehr als einem Jahr gemeinsamer Arbeit wurden die Ergebnisse als ungenügend verworfen. Teile des erarbeiteten Materials verwendete Richter später in seinem Film Rhythmus 21 (ohne dabei allerdings auf die Mitautorenschaft Eggelings zu verweisen).
Die künstlerischen Absichten Richters und Eggelings unterscheiden sich in den Kernfragen wesentlich voneinander; Eggeling war von an der Linie interessiert, Richter an der Bearbeitung der Fläche. Nach Beendigung der gemeinsamen Versuche und nach anschließender Auseinandersetzungen wegen finanzieller Unstimmigkeiten beschäftigten sich beide gleichermaßen weiter mit Fllm, entwickelten aber unterschiedliche Lösungen für die technischen Probleme. Eggeling arbeitete weiter intensiv an der Übertragung seiner Zeichnungen auf Filmmaterial. Anfangs beschäftigte er sich mit zwei Projekten, dem Horizontal- Vertikal Orchester und der Diagonalsymphonie. Ersteres wurde verworfen, da die animierten Zeichnungen nicht den gewünschten dynamischen Effekt erbrachten, Die Diagonalsymphonie erschien geeigneter, um an dem Verlauf der linearen Motive die Möglichkeit eines filmischen Kontrapunktes zu erforschen. Da Eggeling sich mit der Technik der Einzelbildaufnahme nicht zurecht fand, beschäftigte zunächst er einen Spezialisten. Für die Aufnahmen wurde ein einfacher Tricktisch hergerichtet. Dieser bestand aus einer gläsernen Fläche sowie verschiedenen Lampen, aufgenommen wurde mit einer Ascania-Kamera. Nachdem die gezeichneten Vorlagen zu Bilderrollen zusammengefügt waren, wurden die Motive in Stanniolfolien geschnitten, damit bei Beleuchtung von unten um die Zeichnungen herum das Bild auch wirklich schwarz war. Als Eggeling den Techniker nicht mehr länger bezahlen konnte, übernahm diese Aufgabe seine Lebensgefährtin Re Soupaultl, damals noch Studentin am Bauhaus in Weimar; sie erinnerte sich 1977 gegenüber Birgit Hein an die enormen Schwierigkeiten mit der Aufnahmetechnik, mit der sie sich anstelle des Technikers zu befassen hatte: Meine Aufgabe war das Ausschneiden der Linien und Formen in Stanniolfolien sowie die technische Ausführung 8m Tricktisch. Genaue Berechnungen waren erforderlich, um ein gewünschtes Tempo zu erreichen, Berechnungen, die äußerst kompliziert wurden, wenn eine zweite, ja, eine dritte Melodie einsetztet.
Die Dramaturgie der Dlagonalsymphonie war letztlich nicht das Resultat originär filmtechnischer Methoden, der Kontrapunkt dieser neuen Kunstform war ja noch nicht geschaffen2. Der Film selbst war gewissermaßen die Transposition bereits bestehender Bildfolgen, die durch die Einzelbildaufnahme und Mehrfachbelichtung auf das Filmmaterial gebracht wurden. Die Variationen der gezeichneten Motive wurden abgefilmt und basierten im Wesentlichen auf dem Verschieben von Schablonen, die das Bild in unterschiedlicher Weise verdeckten, bzw. zeigten. Dabei wurden die jeweils neue Position der Schablonen einzelbildweise fotografiert. Die Harmonielehre für diese neue Kunstforrrf3 war primär graphisch formuliert, der Film als technisches Medium blieb ein Mittel zum Zweck.
Die Zäsur brachte Richter 1922 die Bekanntschaft mit Werner Graeff. Der erkannte die Problematik: „Gerade weil diese Kollegen (Richter und Eggeling) bis 1922/23 filmtechnisch nicht zurecht kamen, schlug ich ihnen vor, man müsse sich mit dem Tricktisch-Operateur über eine eindeutige „Notenschrift“ verständigen; und vor allem: sie müßten in ihren Entwürfen radikal einfacher werden, wenn sie technisch zurecht kommen wollten. Denn bis dahin hatten sie nur Mißerfolge.“ (Werner Graeff, Ansprache im Folkwang-Museum 1978)
Mit den grafischen ‚Partituren‘ für seine Filme KOMPOSITION I/22 und KOMPOSITION II/22 demonstrierte Graeff die Möglichkeit einer quasi-musikalischen Notation mit Film sehr pragmatisch, indem er das querliegende Einzelbild des verwendeten 35mm-Films mit dem industriell vorgegebenen Seitenverhältnis 3:4 zum Ausgangspunkt seiner Kompositionen machte. Daraus errechnete er die Takteinheiten für die Erscheinung der einfachen Motive Quadrat, Rechteck, Linie und Punkt. Thema der Filme ist die Variation des Zeitmaßes, das Ab- und Zunehmen der Formen im Dreivierteltakt. Damit gelang es Graeff, tatsächlich musikalische Gesetzmäßigkeiten auf Film anzuwenden und reflektierte damit kongenial die zeitgemäße Vorstellung einer Synthese von Inhalt und Gegenstand.
„Darum geben wir den Individualismus auf!“ endete Werner Graeff seinen Aufruf unter dem Abdruck seiner grafischen Filmpartituren in der Zeitschrift ‚G‘ 1922. Doch kommt ihm das Verdienst zu, tatsächlich als erster im metrischen Charakter des Mediums Film die Grundlage für die konsequente Entwicklung einer visuellen Musik, eines ‚Absoluten Films‘, erkannt zu haben. Allerdings blieb Film für den universell begabten und technisch so interessierten Graeff nur eine von vielen Möglichkeiten, die Welt zu erkennen und zu verändern.
Die Absage an die Kunst als Produkt eines unbewussten Prozesses individueller Schöpfung und stattdessen die Vorstellung vom ‚kollektiven Künstler‘ sind das Ergebnis der Politisierung der Kunst. Mit dem Anspruch, dass die Kunst selbst eine politisch wirksame Realität sein muss, wird die Ablehnung des Gegenständlichen zum Ausdruck des neuen politischen Bewusstseins. Theorien und Konzepte wurden zwischen Künstlern diskutiert, die mit ihrer Arbeit teilhaben wollten an der politischen Auseinandersetzung: Die Kunst sollte die Funktion einer neuen, ‚universellen‘ Sprache haben. Die ästhetischen Prinzipien ihres Alphabets gaben der Idee vom Gesamtkunstwerk neuen Auftrieb, weil die Formen, derer man sich bediente, nicht mehr nur für die Malerei gelten sollten, sondern ebenso für Musik, Sprache, Tanz, Architektur, Schauspiel, für alle Bereiche des Lebens.
In seinen KOMPOSITIONEN thematisiert Graeff die beiden Diskurse um den Absoluten Film (Malerei mit Zeit) und die Universelle Sprache. Er reagierte auf die theoretischen Diskussionen um eine Absolute Kunst waren
In mehreren Schriften, erschienen zwischen 1922 und 1932, setzten sich Theo van Doesburg und Laszlo Moholy-Nagy mit der bestehenden Situation eines rein gestaltenden Films und den möglichen Perspektiven auseinander, Beide stimmen im Fazit überein, daß die bisherigen Ergebnisse einer absoluten Filmkunst nurmehr unbefriedigend bleiben müssen, da die technischen Voraussetzungen entweder noch nicht entsprechend genutzt wurden oder noch nicht gegeben sind. Doesburg faßt seine Kritik im Begriff eines FiImpoetismlIs1 zusammen, der nun nicht mehr ist als eine Spielart des herkömmlichen Films, wenngleich auch doch außerordentlich wichtig. Moholy-Nagy schrieb in diesem Zusammenhang bereits 1922, daß die Bewegung ( … ) hier nicht rein gestaltet (wird), sondern die überbetonte Formenentwicklung ( .. .) (fast) alle Kräfte absorbiert,2 Ein wesentlicher Ansatz der Kritik bei Doesburg als auch bei Moholy-Nagy nimmt unmittelbar Bezug auf die Verwendung der Filmtechnik. Praktische Vorbedingungen einer absoluten Filmgestaltung sind vorzügliche Präparate und bestentwickelte Apparatur.3 Während Moholy-Nagy, nicht zuletzt aufgrund eigener Experimente von einem pragmatischen Ansatz her konzipierend die Verwendung bestehender und künftiger Techniken beschreibt, beziehen sich Doesburgs Vorstellungen einer reinen Filmgestaltung auf einen zu erwartenden idealen Zustand der technischen Entwicklung.
Der Begriff von einer ‚reinen Gestaltung‘ begegnet uns bereits früh als Überlegung Moholy-Nagys in der Einführung seines Buches Malerei Film Fotografie 19274. Moholy-Nagy differenziert hier zwischen Gestaltung und einer reinen Gestaltung. Letztere ist Gestaltung der allgemeingültigen, von Klima, Rasse, Temperament, Bildung unabhängigen, in den biologischen wurzelnden Gesetzmäßigkeiten. Im Gegensatz dazu steht die Gestaltung der von Klima, Rasse, Temperament, Bildung abhängigen, in der Erfahrung wurzelnden Gesetzmäßigkeiten. Zwar ist diese Differenzierung der Begriffe konkret auf das Verhältnis von Darstellung und Farbe in der Malerei bezogen; es steht darüber hinaus für die Befreiung von der Aufgabe der Darstellung, wie sie sich für die Malerei aus dem Gebrauch der fotografischen Möglichkeiten ergeben und das bisher unteilbare Gebiet des optischen Ausdrucks gespalten hat. Denn möglich ist nun beides: die reinen Formen des Ausdrucks werden kristallisiert und in ihrer Eigengesetzmäßigkeit zu durchschlagender Wirkung gebracht.
In dem Kapitel „Über das Gegenständliche und Gegenstandslosigkeit“ verbindet Moholy-Nagy bereits die Definition einer reinen Gestaltung mit dem Begriff von der absoluten Malerei, an anderer Stelle um den Begriff von der absoluten Filmgestaltung erweitert. Der Anspruch des ‚absoluten‘ bezieht sich hier in der einfachsten Interpretation auf das Ziel des reinen und primären A.usdrucks7 und meint die grundsätzlich vorgegebenen biologischen Voraussetzungen, die als objektiv vorhandene Parameter die ausschließliche Bezugspunkte einer absoluten Kunst oder reinen Gestaltung sind. Wir müssen davon ausgehen, dass für alle Menschen gemeinsame, durch unseren physiologischen Apparat bedingte Beziehungs- und Spannungsverhältnisse der Farben, Helligkeitswerte, Formen, Lagen, Richtungen bestehen. Moholy-Nagy betont die Autonomie einer reinen Gestaltung, und damit auch das gleichwertige Bestehen beider Aspekte, reine Gestaltung und Gestaltung nebeneinander. Am Beispiel der Malerei wird die Trennung hervorgehoben zwischen Darstellung, also Abbilden, und der reinen, d.h. hier ausschließlichen Darstellbarkeit der Beziehungen zwischen Farbe, Fläche und Helligkeitswerten. Eine solche differenzierte Auffassung von den verschiedenen Elementen des Malens wurde ermöglicht durch die Technik der Fotografie, die ein unvergleichlich besser funktionierendes Ausdrucksmittel für die Darstellung (ist) als (das) … manuelle Verfahren der bisher bekannten darstellerischen Malerei. Ausgehend von der Möglichkeit einer solchen Differenzierung der Mittel am Beispiel der Malerei entwirft Moholy-Nagy eine vergleichbare Perspektive auch für die fotomechanischen Techniken. Die Hauptaufgabe der nächsten Periode müßte sein, ein jedes Werk nach seiner eigenen Gesetzmäßigkeit und seiner eigenen Besonderheit zu gestalten.
Dem positivistischen Ansatz Moholy-Nagys entspricht Doesburgs Vorstellung nur in wesentlichen Teilen. Sein Modell bezieht sich auf die geschichtlichen Abläufe. Realität wird zur Oberrealität. Dargestellt anhand eines kurzen Abrisses der damals noch jungen Filmgeschichte, vollzieht sich nach Doesburgs Auffassung das Entstehen einer Kunstgattung in drei Etappen: Imitation – Darstellung Gestaltung. So sieht er als ein ursprüngliches Bestreben der Erfinder des Films die Reproduzierbarkeit der Natur, die Absicht, die Illusion des Natürlichen (zu) steiger~. Einen Beweis seiner Theorie einer geradlinigen Entwicklung ist der Bezug sowohl auf die zeitgleichen Tendenzen in der modernen Kunst, auf die technische Entwicklung der Fotografie als auch auf physiologische Eigenschaften des Auges. Die Retina nimmt neue Eindrücke auf. und der Geist bereichert sich um neue plastische Gebiete! Für Doesburg sind die rein reproduzierenden technischen Möglichkeiten mit der bloßen Abbildung aber noch nicht erschöpfend entwickelt. Im Sinne des Nachahmungstriebes kann noch mehr gedacht und entworfen werden als für die zweidimensionale Leinwand notwendig wäre. Fotografie – Stereoskop – Stereoskopfilm sind also die drei prinzipiellen Vorgänge, die wir ins Auge fassen müssen“ wenn wir die Materie des Films, anstatt in ihrer Verwendung für reproduktive, für rein schöpferische Zwecke verstehen wollen. Nach dreißig Jahren Film sind also die technischen Voraussetzungen für eine eigenständige Filmkunst aber noch nicht erfüllt, die von Doesburg entworfene Entwicklungslinie in drei Schritten noch nicht zu Ende gebracht. Doesburg kritisiert hier weniger die als ideal gedachten Vorstellungen der Filmkünstler. Die Entwicklung des Films als Ausdrucksmittel hat das Stadium der Darstellung noch nicht überschritten. Da man aber in den Versuchen für eine authentische Filmkunst notwendigerweise noch beschränkt ist auf diese vorhandenen technischen Möglichkeiten, ist der angestrebte rein gestaltende Film, nur mit den Elementen des Films konstruiert, nicht möglich ( … ).
Neben der Filmtechnik, deren ideale sowohl für Moholy-Nagy als auch für Doesburg erst in einer noch nicht absehbaren Zeit realisierbar werden wird, ist der entscheidende zu verändernde Faktor die Projektionsebene. Obgleich Doesburg nicht zuletzt durch seine Arbeit als Herausgeber von De Stijl in den Jahren zuvor maßgeblich die Konzeptionen eines absoluten Films beeinflußt hatte, stellt er hier nunmehr fest, daß der Film alB unabhängige, schöpferische Gestaltung (.,.) in den letzten zehn Jahren keine großen Fortschritte gemach t1 hat. Die Aussicht, in Bezugnahme auf die originären Materialeigenschaften des Films eine entsprechend eigenständige Kunst entwickeln zu können, der letztlich sogar die statische Malerei ersetzten sollte, hatte sich so nicht erfÜllt. Die Kritik greift am üblichen Zustand einer zweidimensionalen Fläche; hat man bis jetzt die Projektionsfläche als Leinwand betrachtet, ja sogar als durch den Rahmen begrenzte Leinwand ( … P, Die Auffassung von einer quasi malerischen Funktion der Projektionsleinwand wiederholt einen Anachronismus, denn das traditionelle Bild ist historisch geworden und vorbeJ3. Und gerade hierbei ist der Versuch, film technisch die dem statischen fehlende Zeitdimension zu Gestaltungselement Zeit machen, gescheitert ( .. .).4 FÜr einen rein gestaltenden Film muß nicht nur in seiner formalen Konzeption, sondern auch in der technischen Umsetzung der Charakter des bildhaften überwunden werden. Was uns bislang als abstrakter Film geboten wurde, beruht auf dem Irrtum, die Projektionsfläche sei eine Ebene, etwa wie die Bildfläche der konstanten Malerei!!,
Doesburgs Forderung nach einer scharfen Trennung der Begriffe erfÜllt sich in seinem Aufsatz lediglich auf der theoretischen Ebene; obwohl der Ansatz der Kritik m Kernpunkt die Frage nach den technischen Möglichkeiten erörtert und hier den Vorstellungen Moholy-Nagys sehr ähnlich ist, erscheinen der pragmatische Charakter, die konkreten Vorstellungen Moholy-Nagys plausibler. Doesburgs Analyse bleibt nicht nur bei der Betrachtung technisch-formaler Phänomene, sondern basiert auch auf einer Geschichtsauffassung, die eine linearen Entwicklung jeglicher Kunst voraussetzt. Die Schlußfolgerungen, die Doesburg für die weitere Entwicklung der Filmkunst folgert, sind nicht zuletzt deswegen vergleichsweise schwer nachvollziehbar, zumindestens was die praktische Anwendung seiner Ideen betrifft.
Hier erweist es sich als vorteilhafter, von einer pragmatischen Grundhaltung her auszugehen und nicht zuletzt so auf der Basis von Erfahrungswerten das technisch Machbare in eine Konzeption mit einbeziehen zu können, wie es bei Moholy-Nagy der Fall ist. Doesburg verweist auf den Unterschied zwischen realistischen Filmen und gestaltenden. Die Differenz ist eine qualitative. Der gestalterische Film soll Über den Rahmen der ‚Leinwand‘ hinaus wirken, und wo dies nicht gelingt, muß der Versuch einfach wirkungslos bleiben, denn der realistische Film ist in diesem Rahmen von stärkerer Wirkung. Die Forderung, über die Leinwand hinaus zu einem Lichtraum oder Filmkontinuum zu gelangen ist daher ebenso wörtlich zu verstehen; aus der Zweidimensionalität der Fläche soll eine Drei- oder Mehrdimensionale werden. Dort und nirgend anders liegt die schöpferische Sphäre des gestaltenden Films!
Ähnlich wie Moholy-Nagy fordert Doesburg eine vielflächige Leinwand, die die Erstellung einer Art ‚Filmplastik‘ ermöglicht. Auf der zweidimensionalen, flächigen Leinwand eröffnet sich dem Zuschauer lediglich ein winziger Teil des Film-Licht-Raumes, und zwar die dem Zuschauer zugewandte Fläche. Doesburgs praktische Beschreibungen eines polydimensionalen Raumes verbleiben mehr auf der theoretischen Ebene, in der Forderung diese Fläche zu sprengen, um hinter ihr die neue Tiefe. das raumzeitliche Filmkontinuum zu entdecken.
Moholy-Nagys Entwurf eines simultanen oder Polykinos orientiert sich an den bühnentechnischen Versuchen, wie er sie unter anderem mit Oskar Schlemmer und Farkas Molnar für die BÜhne des Dessauer Bauhauses entworfen und realisiert hatte. Wesentliches Element ist der Raum, bei Moholy-Nagy in der Betonung seiner physikalischen Bedeutung. Die räumliche Tiefe wird ausgenutzt durch beispielsweise hintereinander versetzte Leinwände oder aber auch eine gewölbte Leinwand, die in jeweils entsprechender Weise dramaturgisch und filmgestalterisch anders zu bearbeiten wären als es im herkömmlichen Kino der Fall ist. Der Raum bei Moholy-Nagy ist also ein wirklicher, ein Ereignis räumlicher Tiefe. Die Vielfältigkeit der Lichterscheinungen kann auch durch die Benutzung mechanisch beweglicher Lichtquellen gesteigert werden. Die Argumentation, bzw. Begriffsdefinitionen für die Perspektiven einer zukünftigen kinetischen Gestaltung sind bei Moholy-Nagy und Doesburg ähnlich, insoweit es die Einbeziehung des Films in eine umfassendere Diskussion über eine ‚absolute‘, respektive ‚reine‘ Gestaltung. So bespricht Moholy-Nagy die Arbeit Eggelings und Ruttmanns als einen wesentlichen Fortschritt, an dessen Anfang der Versuch stand, eine Lichtorgel oder ein Farbklavier zu schaffen. Besonders Eggeling sei es hierbei gelungen, mittels mechanischer Mittel die eine bisherige Ästhetik umstürzende Wichtigkeit des Zeitproblems (weiterzuentwickeln) und dessen wissenschaftlich strenge Problematik {aufzustellen).l Der Film also auch ein neues Instrument, das nicht in erster Linie Farbzusammenhänge, sondern die Gliederung eines Bewegungsraumes gab. Der Trickfilm aber ist nur eine Etappe zu dem Ziel, den mühsam gestaltbaren Lichtraum zu erweitern. Die nächste Aufgabe ist die kurbelbar-kontinuierliche Herstellung von Lichtfilmen in der Art der Fotogramme, als eine dem technischen Medium gemäßere Ausdrucksform.
Moholy-Nagy entwirft das Bild einer Tradition optischer Gestaltung, an deren Anfang die Farbenklaviere und Lichtorgeln stehen und in deren bisherigen Verlauf die Filme Eggelings ebenso entstehen konnten wie das Lichtspiel Hirschfelds. Jedes hat seine Funktion innerhalb dieser Entwicklung, stellt aber jeweils nur einen Aspekt eines allumfassenderen Konzepts kinetisch/optischer Gestaltung dar. Während der Trickfilm noch mit dem Aspekt der direkten zeichnerischen Bearbeitung arbeiten muß und ebenso wie der ‚fotogrammische‘ Lichtfilm an das farblose Filmmaterial gebunden ist, kann das Lichtspiel farbliche Element benutzen. Dagegen hat es Hirschfeld mit dem Lichtspiel hat gelingen können, als erster den Reichtum feinster Obergänge und überraschender Wechsel von farbigen Flächen in Bewegung zu bearbeiten. Mit der Unterscheidung zwischen Lichtfilm und Farbgestaltung betont Moholy-Nagy das künstlerisch weite Gebiet der Lichtgestaltung und zieht auf der technischen Ebene gleichwohl die intensive Arbeit von Hirschfeld-Mack als für eine kontinuierliche Filmaufnahme geeignete Apparatur in Betracht. Wenn Moholy-Nagy in diesem Zusammenhang insbesondere die reflektorischen Licht- und Schattenspiele Hirschfelds erwähnt, so deshalb, weil diese die gelungenste bewegte Farbengestaltung sei.
Während Moholy-Nagy sich auf die praktische Anwendung seiner Vorstellung der neuen Gestaltungsbereiche bezieht, argumentiert Doesburg umso theoretischer. Seine überlegungen zum polydimensionalen Raum ist in einer Graphik dargestellt, in der lediglich die denkbaren vieldimensionalen Ebenen der zweidimensionale Leinwandfläche gezeigt wird. Doesburgs Forderung an den künftigen Film ist die Gestaltung des unbegrenzten Lichtraums und hier sieht er die Möglichkeiten des Lichtspiels lediglich als experimentelle Vorform. Doesburg unterscheidet hier im Gegensatz zu Moholy-Nagy zwischen Film und Lichtspiel; die Farbenlichtspiele stehen ( … ) technisch außerhalb des Gebietes des Films, haben aber eine ganze(n) Wirkung ( … ) die dermaßen intensiv ist, daß man gerade für die Entwicklung des neuen raumzeitlichen Films dieses Experiment nicht außer acht lassen soll. Aber weiterhin besteht die Kritik der Notwendigkeit einer Sprengung der umrahmten ‚Bildfläche‘ zur Nutzbarmachung dieser schöpferischen Sphäre.
Das Medium dieser neuen Kunst wird das Licht sein, die Farbe in ihrer reinsten und intensivsten Form, Moholy-Nagy nennt neben den Versuchen von Hirschfeld, Schwerdtfeger und Hartwig am Weimarer Bauhaus die Experimente von Thomas Winfried, der 1920 in Amerika mit dem sogenannten Clavilux wechselnde gegenstandslose Bildl’ariationen3 vorfÜhrte und die Untersuchungen von Raoul Hausmann zu seiner Theorie einer ‚Optophonetik‘. Gerade Letztere beziehen sich auf die Arbeit des von Moholy-Nagy gleichfalls genannten Pater Castel, der im 18. Jahrhunderts physikalische Untersuchungen an der möglichen Beziehung zwischen Farbe und Tönen vorgenommen hatte und bereits eine Lichtorgel konstruiert haben soll.
Seit dem Mittelalter ist das Phänomen der Doppelempfindung von gleichzeitigen optischen und akustischen Eindrücken unter dem Begriff der ‚Synästhetik‘ bekannt. Nicht zuletzt angeregt durch Erlebnisse, wie sie nun das Kino vermitteln konnte, nahm das Interesse an den künstlerischen Möglichkeiten von synästhetischen Ereignissen spätestens seit den 20er Jahren unseres Jahrhunderts zu. Hans Richter schrieb 1929, indem sein (des Kinozuschauers) Interesse für Handlung und das Äußere der Gegenstände abnimmt, wächst es für etwas, was trotz dieser im Film (selbst im schlechtesten noch faszinierend) vorhanden ist; für das, was hinter der Spielhandlung auf der Leinwand vor sich geht.1
Am Bauhaus waren die Versuche synästhetischer Experimente mit Ton und sichtbarer Form nicht zuletzt durch die Zwölftonkompositionen des Wiener Komponisten Josef Matthias Hauer inspiriert. Hauer komponierte bereits vor 1912 mit dem Prinzip von zwölf Tönen; sein lange als versponnen verkanntes System basiert auf der harmonischen Beziehung von Tönen und Farben zueinander, das die Grundlage eines fast mysthisch-religiösen Weltanschauung bildete. Sein 1920 erschienenes Buch mit dem Titel Vom Wesen des Musikalischen wurde 1922 von Johannes Itten in Kreisen der Bauhausschüler bekannt gemacht, und Hauers Zwölftonmusik spukte in den Köpfen vieler Bauhäusler so sehr herum, daß es ( …) an Gesprächsstoff niemals fehlte. Hauers Einfluß ist heute nicht direkt nachzuweisen; aber gerade auch am Bauhaus blieben die Versuche, synästhetische Ereignisse zu erzeugen, nicht ausschließlich begründet in der Erforschung des grundsätzlichen Verhältnisses von Licht und ‚1‘on zueinander. Vielmehr sah man – ähnlich wie beispielsweise Richter und Eggeling – in musikalischen Strukturen das Vorbild fÜr eine vergleichbare Ordnung optischer Elemente und suchte nach quasi physikalischen Modellen. um eine Ähnlichkeit zwischen Farbflächen und Tonfolgen zu beweisen. Diese Versuche einer künstlerisch wie physikalisch gegebenen Analogie von Licht und Musik fÜhrten zu praktischen Ergebnissen unterschiedlicher Qualität.
Das Bauhaus setzte zunächst den Begriff vom ‚Design‘ gegen den herrschenden, quasi atavistischen Kunstbegriff als Absage an den individuell-handwerklichen Gestaltungsprozess in der Hinwendung zum industriellen Produkt, dessen Bedeutung in einer neuen, gestalteten Gesellschaft Form und Funktion umfasste. Hier war das Bauhaus – und zeitweise weitaus schärfer in den Forderungen: die De-Stijl-Bewegung um Theo van Doesburg – ebenso Avantgarde wie Abbild jener Tage.