Blick vom Satellit auf die Erde

Henning Burk (*30. September 1945 in Braunau am Inn) ist ein deutscher Regisseur und Drehbuchautor zu kulturellen und zeitgeschichtlichen Themen. Seit 1975 lebt und arbeitet er in Frankfurt am Main. Von 1989 bis 2010 war Burk „Fester Freier“ Mitarbeiter beim Hessischen Rundfunk, für den er auch zahlreiche Beiträge für die Magazinsendungen wie ttt, Hauptsache Kultur, horizonte (hr) und kulturzeit (3sat) machte.
Für seinen Filmessay zu Walter Benjamins „Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ im Auftrag des HR und des NDR anlässlich der 100. Geburtstag Benjamins 1992 übernahm ich die Regieassistenz. Es war meine erste größere Zusammenarbeit nach meinem Diplom 1991.

Blick vom Satellit auf die Erde

Von Henning Burk

Stellen wir uns vor, was passieren würde, wenn plötzlich alle Sendestationen ausfielen, wenn es keine vorfabrizierten Bilder, keine Nachrichten, keine ’Live’-Übertragungen mehr gäbe. Wenn die erweiterte Sichtbarkeit plötzlich erlöschen würde. Plötzlich gäbe es unsere gewohnte Welt nicht mehr. Die Gegenwart jedes Einzelnen würde auf einen kleinen Punkt schrumpfen. Man wäre mit sich selbst konfrontiert. Aber ist es nicht so, daß jeder davon träumt, daß diese Situation eintritt, um das Neue zu erfahren, das hinter dieser gefrorenen, standardisierten, klischeehaften Sichtbarkeit grenzenlos passiert?

Walter Benjamin hat sich mit dem modernen Massenmenschen beschäftigt. In den Großstädten, so hatte er beobachtet, verhalten sich die Menschen merkwürdig stumm und gegeneinander gefühllos. Er fand eine Erklärung für dieses Verhaltens bei Sigmund Freud, dem aufgefallen war, daß die heimkehrenden Soldaten aus dem 1. Weltkrieg trotz heftiger Erlebnisse, wie den Donner der Granaten, wenig mitteilbare Erfahrungen zu erzählen hatten. Freud meinte, daß Bewusstsein der Krieger sei damit beschäftigt, die heftig auf sie einwirkenden Reize, die wie ’Choks’ wirken, mit hohem Energieaufwand abzuwehren. Benjamin übertrug diese Einsicht auf das Leben in der Stadt: Er erkannte, daß die Gesamtheit aller Lebensvorgänge in einer Großstadt ebenfalls in immer größerem Ausmaß ’Choks’ produziere, die der psychische Wahrnehmungsapparat jedes Einzelnen an verschiedenen Reizfronten per Reizschutz ständig abwehren muß. Die permanent wechselnde Beschäftigung mit wechselnden Objekten hinterlasse wenig Spuren und zerstöre die Fähigkeit zu ‚Erfahrung‘. Erfahrung, so Benjamin, wurde traditionell in der Form des Erzählens weitergegeben. Wer der Erzählung lausche, versenke die Erfahrung des Berichtenden in sich. Für die Aufgabe der ständigen Chokabwehr in der Stadt seien Erfahrungen sinnlos. An ihre Stelle tritt, der schnellebigen Orientierungsaufgaben entsprechend, die Information. Sie verspricht eine bessere Überlebensstrategie, weil sie dem Anspruch auf Nachprüfbarkeit, Verständlichkeit, Plausibilität genügt. Allerdings um einen Preis: Sie ist flüchtig, veraltet schnell, wird nicht ‚erfahren‘.

Dem neu entstandenen Bedürfnis nach Information entsprechen Reproduktionstechniken, mit denen Informationen in beliebiger Auflagenhöhe verbreitet werden können. Mit der Erfindung der Photographie werden Informationen beschleunigt: das Bild kann in viel kürzerem Zeitraum bewußt verarbeitet werden. Das hat sich mit dem Film noch gesteigert. Er hält mit den tatsächlichen Lebensvorgängen Schritt und kommt dem Bedürfnis nach häufig wechselnden Bildeindrücken entgegen.

Im Zuge dieser Anpassung des Wahrnehmungsapparates an das moderne Leben, so Benjamin, entwickelt der Mensch bestimmte, distanzierende Eigenschaften: Die nahebringende Reproduktion läßt das Dargestellte für den privaten Gebrauch leichter verwenden. Man fühlt sich gegenüber dem Gegenstand, sei es ein Kunstwerk, sei es eine Nachricht, erhabener, als wenn man sie unmittelbar ‚erfahren‘ müßte. Der Betrachter will überhaupt nicht mehr belehrt werden, sondern selbst ‚testen‘. Dem kommt das Reproduzierte insofern entgegen als es den Gegenstand schon vorgetestet liefert (Perspektive, Bildausschnitt, etc.). Die vorgekaute Präsentation wird schließlich zum gewohnten Teil der täglichen Wahrnehmung. Benjamin zitiert Valery (um 1900): ‚Wie Wasser, Gas, elektrischer Strom von weither auf einen fast unmerklichen Handgriff hin in unsere Wohnungen kommen, um uns zu bedienen, so werden wir mit Bildern oder mit Tonfolgen versehen werden, die sich, auf einen kleinen Griff, fast ein Zeichen einstellen und uns ebenso wieder verlassen.’

Die Reproduktionstechnik bringt ständig neue Aspekte zum Vorschein, die bisher nicht wahrgenommen werden konnten: Vom Bild eines fernen Ereignisses bis zu neuen Sichtweisen im Film wie Vergrößerung, Zeitlupe, Wiederholung. Die spiegelgenaue Aufzeichnung, nun Norm der Bilderproduktion, zeigt die Realität stimmungslos wie ein Tatort. Der Betrachter tritt ihr teilnahmslos gegenüber, cool. Vor seinen Augen hat die Schicksalsstunde der Kunst geschlagen. Das Kunstwerk begriff Benjamin als ein Original von dauerhafter Echtheit und Traditionswert. Seine Autorität ist oft zu Herrschaftszwecken vereinnahmt worden (Triumphbögen, etc.). Diese Aura verliert für die auf Choks eingestellte neue Wahrnehmungsweise an Wirkungskraft.

Die Film-Montage bietet nun die Möglichkeit, die verfallene Aura für die moderne Massengesellschaft wieder zu beleben. Goebbels erkannte in der Montagetechnik von Eisensteins ‚Panzerkreuzer Potemkin’ eine Methode, die ihm auch für die nationalsozialistische Propaganda nützlich schien, um Massenmenschen in Menschenmassen zu verwandeln. Die simple Montage stellt ein auratisches Massengefühl her, indem Teilaufnahmen, die selbst ohne Atmosphäre waren, mit Hilfe der Musik zu einem großen ’Gesamtkunstwerk’ montiert wurden. Nicht das Ereignis selbst, erst der Filmschnitt schuf die Illusion, jeder Volksgenosse sei Teil der riesigen Bewegung. Statt Ideologie bloß zu verkünden, zeigte der NS- Staat in jedem Kino die ornamental inszenierten Massen, so daß jeder Einzelne sich als Teil des ‚Gesamtkunstwerks‘, des auratischen Massengefühls empfinden konnte. Die manipulativen Möglichkeiten montierter Bilder sind zum festen Bestandteil aller Propagandatechniken geworden. Sie gelten bis heute, in Politik und Werbung.

Hitler wollte, daß das Volk nicht in Aufklärung, sondern im Ritual lebt. Er forderte, daß in den Ostgebieten überall Volksempfänger aufgestellt wurden, aus denen den ganzen Tag Musik rieselt. Bildung sollte darin nicht vorkommen. Nur Verkehrszeichen sollten erklärt werden. Ein Entwurf unseres heutigen Verkehrsfunks?

Walter Benjamin hatte andere Vorstellungen von der Aufgabe des Rundfunks in der Massengesellschaft. Er selbst gestaltete in den Jahren 1927-32 Sendungen für die Frankfurter ‚Südwestdeutsche Rundfunk AG‘. Seine Erfahrungen in der Programmarbeit wurden zum Baustein für seine spätere Theorie des Funktionswandels der ‚Kunst‘ in der Epoche der neuen Medien. Der Rundfunk war 1923 in der Absicht angetreten, Unterhaltung zu bieten. Benjamin erkannte, daß der Rundfunk, eingerichtet zum Zwecke der Unterhaltung, den Gegensatz zwischen aktivem Produzieren und passivem Zuhören in der Gesellschaft fördert, zudem die Perfektionierung von individuellen Spitzenleistungen. Alle Informationsträger, die sich mit der industriellen Revolution nach und nach durchgesetzt hatten, informieren zwar sachlich über das Elend der Welt, machen es aber, wie Benjamin meint – selbst bei edelsten Absichten – zum Gegenstand ‚kontemplativen Behagens’. Um der ’schrankenlosen Ausbildung einer Konsumentenmentalität’ bei den Massen entgegenzuwirken, solle die Programmarbeit nicht auf die Herstellung von Produkten ausgerichtet sein, sondern die Massen aktivieren. Benjamin sah das Vorbild für einen politischen Gebrauch in den Montagen, den bewußt hergestellten Choks der avantgardistischen Kunst. Da-Da-Bewegung und Surrealismus zertrümmerten die traditionellen künstlerischen Ausdrucksmittel derart, daß sich das provozierte Bewusstsein seiner angepaßten Wahrnehmung und der zerstückelten Realität inne werden konnte. So dürfe auch eine im Radio vorgeführte Handlung nicht kontinuierlich am Zuhörer vorbeilaufen. Sie müsse laufend unterbrochen werden, um den Hörer zur mündigen Stellungnahme zu veranlassen. Erst die Möglichkeit, den dargestellten ‚Zustand‘ aktiv zu begutachten, zeige dem Zuhörer das Geschehen als veränderlich. Um wirklich aufklärerisch-demokratisch zu sein, müsse das Radio zu einem Kommunikationsapparat werden. Entscheidend sei die Mitwirkung des Publikums. Der Bürger soll vor das Mikrophon geholt werden. Benjamin selbst entwickelte ‚Hörmodelle’. Seine Sendungen bestanden aus unterhaltsamen Rollenspielen. Wechselnde Argumente sollten den aktiven Hörer schulen. An die Stelle der Bildung soll Urteilsbildung provoziert werden, an die Stelle von Zerstreuung kollektives Verarbeiten. Zu Benjamins Zeit hörten noch Hörergemeinschaften gemeinsam Rundfunk und diskutierten über die Sendungen. Diese Kollektive entsprechen Benjamins Utopie einer idealen Kommunikationsgemeinschaft, ermöglicht durch die Technik des Mediums.

Henning Burk 01.04.1992, aus: GRIP 01, Frankfurter Filmhaus April, Mai 92