Die Tagebücher von Dr. W. D. W.

Die Hefte bis 1969 sind ausschließlich den Romanentwürfen vorbehalten, die persönlichen Beobachtungen und Bemerkungen sind hier Material für Figurenbeschreibungen und aufwändig durchkomponierte Erzählstrukturen. Aus diesen Heften entstanden die editierten und maschinengetippte Fassungen, die zum Teil wieder mit handschriftlichen Korrekturen versehen worden sind.

Dr. W. bezeichnete die Selbstzeugnisse abwechselnd als Tagebücher, Notizbücher oder Arbeitstagebücher. Sie enthalten handschriftliche Fassungen unveröffentlichter Kurzgeschichten und Romane sowie Tagebucheintragungen, Gedankenskizzen, Brief- und Textentwürfe sowie Rezensionen.

Auch die eigentlichen Tagebücher ab 1970 wurden von W. D. W. zu unterschiedlichen Zeitpunkten noch einmal gelesen und nicht selten im Nachhinein mit handschriftlichen Bemerkungen und Korrekturen versehen. Die letzte Revision dieser Art fand 2013 statt. Hierbei versah er die Hefte auch mit kurzen Überschriften und Klassifizierungen.

Den Romantitel ”Außer mir“ verwendete W. bereits für frühe Romanversuche und schließlich für ein „Opus Magnum“, an dem er bis in die 80er Jahre hinein schrieb. Das Manuskript wurde von einem Verlag abgelehnt. Schließlich verwendete W. den Titel für seine Autobiografie, die 1996 erfolgreich veröffentlicht wurde. Es sollte sein einziges literarisches Werk bleiben.

Der größere Bestand des schriftlichen Nachlasses sind jene Tagebücher oder Arbeitstagebücher, begonnen mit einem markanten Eintrag am 16. Januar 1970 im Arbeitszimmer in Tunzenberg. Die ersten Zeilen gelten dem 1969 nachgelassen auf deutsch erschienen Buch „Tagebücher und Briefe. 1930-1941“ und seinem Autor, dem britischen Diplomaten und Autor Harold Nicolson (1886-1968), der mit seiner Frau Vita Sackville-West der „Bloomsbury Group“ um die Schriftstellerin Virginia Woolf angehörte: „Harold Nicholsons Tagebuch bringt mich auf den Gedanken, selbst wieder Tagebuch zu schreiben: Kurz, einfach das aufzuschreiben, was gerade passiert ist.“

W. D. W. erkannte in Nicholsons „Tagebüchern“ nicht nur ein Vorbild für seine eigene Entscheidung, die Existenz als Schriftsteller einer vielversprechenden wissenschaftlichen Karriere vorzuziehen, sondern auch den erfolgreichen Lebensstil eines Menschen, der mehreren Berufungen nachgehen konnte, in diesem Fall Diplomat, Autor und Gärtner.

Bei W. D. W. wird aus dem Vergleich eine selbstkritische Bemerkung, die sich wie eine Vorahnung künftigen kommenden Scheiterns liest: „Wenn er (Nicholson) nicht produktiv ist, bastelt er an seinem Haus herum. Ich bin mir klar, dass die ‚Verschönerung von Tunzenberg‘, allen Freunden sichtbar, nebenbei die Aufgabe hat, mich und die Anderen über meine Faulheit hinwegzutäuschen.“

Dieses Leiden an sich selbst wird genährt von ständigen Auf- und Abwertungen Wertungen in Form von Rezensionen der Werke zeitgenössischer Autoren und steht in einer Wechselbeziehung mit einer Setzung, das Schreiben sei eine existenzielle Notwendigkeit. Beides wiederholt sich bis in die Eintragungen der letzten Lebensjahre, ebenso wie das wiederkehrende Misstrauen, als Autor nicht ernst genommen zu werden, weil seine freie Existenz mit dem Geld der Ehefrau gekauft sei; später fühlt er sich immer wieder missachtet: „Meine Freunde verstehen nicht, was ich schreibe“ notiert er im März 1985.

Derartige Spannungsfelder sind programmatisch und wechseln sich ab mit den Hochgefühlen der Produktivität. Tatsächlich aber hält er schon in dem ersten neuen Tagebuch den Vorsatz nicht durch, „einfach das aufzuschreiben, was gerade passiert“, durchzuhalten. Stattdessen fällt er nach wenigen Seiten bereits wieder in jene Angewohnheit zurück, die er eingangs in Bezug auf seine früheren Eintragungen noch vehement kritisiert hatte: „Alle meine seitherigen Tagebücher sind in erster Linie Handwerksbücher (…) voller halbgarer Fragment – besonders die in Erwartung auf »ausser mir« verfassten Heidelberger Notizbücher. Gespräche, Physiognomien, Lektüre, Geschichten, die keinen Zusammenhang zum Roman zu besitzen schienen, habe ich nie notiert und wahrscheinlich oft vergessen.“

Schon diese Selbstkritik gesteht er sich nicht ein ohne Referenz auf ein erhabenes Beispiel: „Henry James’ Workshopbuch vergleichbar“. Und doch steht insbesondere das Tagebuch von 1970 für eine Zäsur; im 40ten Lebensjahr und somit in der Mitte seines Lebens beschreibt W. D. W. hier bereits jenes Spannungsfeld aus Sehnsucht und Verzweiflung, aus dem heraus sich sein weiteres Leben ebenso wie seine literarischen Ansprüche entwickeln werden. Die Identifikation mit dem Bild des erfolgreichen Autors wird zum Innbegriff eines erfolgreichen Lebens, das Schreiben als existenziellem Bedürfnis zum Rettungsanker in emotionalen Krisen und zugleich als Auslöser für das wiederkehrende qualvolle Scheitern an sich selbst.

„Wenn ich diesen Stift, den ich hier in der Hand halte, dieses schöne Heft nicht besäße, würde ich keinen Schritt mehr gehen.“ Dieser Satz findet sich alleinstehend auf der zweiten Seite eines Notizheftes aus dem Jahr 1985, das mit „Arbeitstagebuch“ überschrieben ist und am 6. April des Jahrs auf einer Reise durch Ägypten begonnen wurde.

Zunächst ausdrücklich als möglichst lückenloses Tagebuch der alltäglichen Ereignisse angekündigt wurden die Hefte zu ebenso ausführlichen wie unregelmäßigen Reflexionen grundsätzlicher Überlegungen. Nicht selten gerieten hierin die Schilderungen eines alltäglichen Ereignisses, einer Begegnung oder eines Vorhabens zum Anlass, die datierten Schilderungen als essayistische Beobachtungen, Briefentwürfe und immer wieder auch als Rückblicke, Kindheitserinnerungen und freien autobiografischen Textskizzen fortzusetzen.

Ist die Autorschaft mit all ihren gesellschaftlichen und auch finanziellen Implikationen im Jahr 1970 noch eine Setzung, die der Autor W. zwar dort schon bisweilen schmerzhaft selbstkritisch, aber insbesondere im Vergleich mit zeitgenössischen Autoren positiv bestätigt und bereits als Alltagsleben in Tunzenberg inszeniert, belegen die Eintragungen nach 1981 die existenzielle Bedeutung und zugleich Bedrohung, die vom Erfolg des Schreibens nunmehr hatten.

Dem vorausgegangen ist die Trennung von der Familie, damit einhergehend eine massive gesellschaftliche und auch ökonomische Veränderung und letztlich die Loslösung von jenem Künstlerdasein, wie er es mit dem Alltag in Tunzenberg sich selbst und anderen hatte sichtbar werden lassen. Stattdessen nun notiert W. D. W. die Auseinandersetzung mit den Umständen seiner neuen Lebenssituation, die sich zumindest in den Notizheften als eine anhaltende Krise widerspiegelt, immer wieder angefacht von gesundheitlichen und finanziellen Problemen, dem Hadern mit dem Älterwerden, dem Sterben und nicht zuletzt dem Bemühen, das Verhältnis zu den eigenen Kindern zu stabilisieren. Darüber hinaus gelingt es W. D. W. immer wieder dem Erleben von Freude, Krankheit, Altern und Trauer grundsätzlich Ausdruck zu geben, die den Anlass bisweilen schmerzhaft selbstkritischer Reflexionen überragt.

In den 80er Jahren und somit seinem sechsten Lebensjahrzehnt entstanden die zahlenmäßig meisten Eintragungen und Notizhefte, und hier nennt er sie auch „Arbeitstagebücher“. Nicht selten sind Passagen mit Korrekturanmerkungen versehen, die Handschrift ist weitgehend ausgeglichen und gut leserlich. Weiterhin definiert sich W. D. W. vor allem über die Arbeitsprozesse als Autor; während das Tunzenberg-Idyll noch weitgehend mit dem Geld seiner wohlhabenden Ehefrau finanziert worden war, führt er nun eine eigene kleine Praxis der Psychotherapie, mit deren Erlösen er den Unterhalt der vier Kinder ebenso finanzieren muss ebenso wie den eigenen und den seines neuen Lebensgefährten Axel. Beide gemeinsam versuchen sich zwischenzeitlich vergeblich an einer Galerie für Antiquitäten, doch die ökonomische Situation ist eng, nicht zuletzt durch die Unterhaltszahlungen an die Familie, mit der er über weite Stecken mal mehr, mal weniger aggressiv hadert.

So wird die angespannte ökonomische Situation immer wieder thematisiert. Die Identität als Autor und die Hoffnung auf einen Erfolg wird hier einmal mehr zum Anker und zugleich Maßstab in einer Lebenssituation, die sich größer von der ursprünglichen kaum unterscheiden könnte. Der Vorgang des Schreibens bietet Schutz in Phasen äusserer oder innerer Bedrohung und bleibt zugleich jene leidvolle Prüfung, da es ihm nicht gelingt, die ersehnte Kontinuität und Disziplin beizubehalten. So wechseln sich die Phasen der Selbstvorwürfe ab mit der immer wieder neu aufflammende Beteuerung, endlich wieder zum Schreiben gefunden zu haben.

Angesichts der beeindruckenden Leistung, ein halbes Leben lang mehr oder weniger beständig Aufzeichnungen und Tagebücher verfasst zu haben, erscheint eine Bemerkung im ersten Tagebuch vom Januar 1970 wie eine weitsichtige Bedeutung: „Altmodische Eigenschaften, wie sie zur Tagebuchschreiberei gehören, sind nicht geschätzt, aber plötzlich dann, wenn einer wie Nicholson 30 Jahre durchhielt, bergen solche Notizen mehr als was in Datenbanken auf Eis liegt. (…) Sie verdanken ihre Interessantheit gewiss nicht nur der Sehschärfe bzw. den Sehfehlern ihrer Autoren, denke ich.“

So wirkt nun das Konvolut der Notizbücher im Gesamten wie ein Rhizom, dessen Verästelungen zwar vereinzelt ganze Tagesabläufe und Begegnungen erkennen lassen, aber vor allem ein unfassliches Spannungsfeld der wechselhaften Entwicklung einer Persönlichkeit über mehr als vier Jahrzehnte dokumentiert.

Die zahlreichen Notizen und Eintragungen sind Fragmente eines ununterbrochenen Selbstgesprächs, wie das Leuchten aus einem fernen System, das längst untergegangen ist, wenn es unsere Aufmerksamkeit erreicht.

Was nun für das Projekt von Interesse ist, sind nicht tagtägliche Einzelheiten, sondern jene Reflexionen, welche die Grundbedürfnisse menschlicher Existenz berühren. Das sind beispielsweise die Auseinandersetzung mit dem eigenen Alterungsprozess, der schonungslos hinterfragt wird, wie auch die Verzweiflung darüber, dass das Leben einen anderen Weg genommen hat, als es jugendliche Lebenspläne und persönliche Utopien vorgesehen hatten.

Am 1. Dezember 2000 notierte W. D. W. dazu: „Erst allmählich kam ich wieder zu mir und gestand mir zu, dass mein Leben als Arzt genau das Leben gewesen war, das ich hatte führen, man kann auch sagen: wagen wollen.“

Doch einer der letzten Eintragungen im Jahr 2015 lautet: „Ich schreibe wieder!“.